Die fünf Zustände des Geistes
In seinem Kommentar zu den Yoga-sutras zählt der große Yogi Vyasa fünf Grundzustände des Geistes auf. Diese Einteilung in fünf Zustände, in denen sich der Geist befinden kann, kann als Orientierung für Selbstreflektion und für die Gestaltung der eigenen Yogapraxis dienen.
1) zerstreut (kshiptam)
- Der Geist ist unruhig, sprunghaft, gestört, verwirrt, in viele Richtungen aktiv - man sucht ständig den 'neuen Reiz'
- bildlich betrachtet ist der Geist vergleichbar einem See, dessen Oberfläche sehr unruhig ist;
durch die vielen Wellen ist die Wahrnehmung vielfach zersplittert, man erhält kein klares Bild der Wirklichkeit.
2) dumpf (mudham)
- Der Geist ist schwer, träge, man ist lethargisch bis deprimiert -
es dominieren Gedanken und Gefühle wie 'Ich kann nicht', 'Ich will nicht', 'Wozu soll das alles gut sein?' 'Ich habe keine Lust', 'Keiner mag mich' etc. - man sieht durchaus ein, dass man etwas unternehmen sollte, um aus diesem Zustand herauszufinden, ist jedoch zu träge, sein Vorhaben umzusetzen bzw. es durchzuhalten.
In diesen beiden ersten Zuständen (kshiptam und mudham) ist man vollkommen stimmungsabhängig. Man reagiert automatisch auf alle Reize, Situationen und Ereignisse, folgt ausschließlich momentan aufsteigenden Bedürfnissen und Impulsen. In diesen Zuständen gibt es keine Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen und sich zu entwickeln - man stagniert.
3) motiviert, sich sammelnd (vikshiptam)
- Dieser Zustand ist gekennzeichnet durch kurze Phasen geistiger Sammlung (Konzentration), der Ausrichtung auf eine Sache, die jedoch immer wieder verloren geht - man wird abgelenkt
- man wechselt zwischen kshiptam und mudham, ist jedoch ernsthaft bemüht, den Geist zu sammeln, achtsam zu erleben - und ist damit teilweise erfolgreich
- dies ist der Geisteszustand Übender, jener, die motiviert an der Entwicklung ihrer geistigen Praxis arbeiten
- das Ziel des Übens ist, einen Zustand frei von Störungen zu erreichen.
4) einpunktig ausgerichtet (ekagram)
- ein wahrhaft konzentrierter Geist, der mühelos in der gewählten Ausrichtung und frei von Ablenkungen gehalten werden kann
- dieser Zustand des Geistes ermöglicht tiefe innere Erkenntnis über das, worauf er ausgerichtet ist, er eröffnet uns den Zugang zum 'inneren Wissen' (Einsicht)
- dieser Zustand der Einpunktigkeit wird auch als Samprajnata-samadhi bezeichnet - Samadhi der Weisheit, der Erkenntnis (samadhi: tiefe Meditation).
5) still, ohne Bewegung (nirodham)
- Der vollkommen stille Geist, frei von jeglicher Aktivität, ohne Inhalt, mit nichts beschäftigt
- 'tada drashtuh svarupe'vasthanam' - 'Dann ruht das Sehende in seiner wahren Seinsnatur' -
man ist reines Bewusstsein, jenseits aller Gedanken und jenseits des Geistes - - dies ist der Zustand der höchsten Freiheit, Unabhängigkeit und Vollständigkeit (asamprajnata-samadhi).
Welchen Nutzen hat dieses Wissen über die Zustände des Geistes?
Wenn man sich beispielsweise sagt:
'Ich bin heute so kaputt!' - oder 'Mir geht es so schlecht!' - oder 'Ich bin so deprimiert!' -
derartige Gedanken intensivieren die negativen Gefühle und lassen es mir noch schlechter gehen.
Das Wissen über diese 5 Grundzustände ermöglicht uns ein bewussteres Beobachten und Reflektieren unserer eigenen inneren Zustände und Bedingungen. Wir können allmählich lernen, uns mit gewissen Zuständen weniger zu identifizieren.
Als erstes sollte man sich darin üben, sich aus kshiptam- und mudham-Zuständen herauszuholen. Allerdings sind dies unsere häufigsten geistigen Alltagszustände. Unsere Bewusstheit ist häufig derart abwesend und zerstreut, dass man vieles nicht registriert - beispielsweise was in mir selbst geschieht, was man denkt, wovon motiviert man spricht oder handelt etc.
Daher benötigt man auch ein echtes und genügend starkes Interesse, sich weiter zu entwickeln. Man muss in irgendeiner Form genug davon haben, wie sein Leben läuft
Drei Grundtendenzen der Energie (gunas)
Man spricht im Yoga von drei Grundqualitäten der Energie (gunas). Sie sind mit den 5 Zuständen des Geistes eng verbunden:
Tamas
die Tendenz der Festigkeit, Stabilität, Statik, Beharrung - auch der Trägheit und Schwere. Es handelt sich um eine relativ niederfrequente geistige Energie. Herrscht Tamas vor, tendiert der Geist zu Schwere und Trägheit (mudham) - man tendiert zu Nachlässigkeit oder einem Handeln, das sich nicht um die Folgen kümmert (Rücksichtslosigkeit).
Rajas
ist eine intensivere, mehr feurige Energie - z.B. der emotionale Antrieb, der uns zur Aktivität anregt - die Tendenz der Dynamik, Bewegung, Veränderlichkeit. Herrscht Rajas vor, ist der Geist hochaktiv, unruhig, beschäftigt etc. (kshiptam) - emotionale Tendenzen dominieren, der Wunsch nach Durchsetzung, Bedürfnisbefriedigung u.dgl. Doch Rajas ist auch notwendig, um aus tamasischer Schwere herauszufinden.
Sattva
Sattva ist eine sehr feine, hochfrequente Schwingung der Energie - je höher das Geistfeld schwingt, desto mehr Energie ist in uns aktiv. Sattva steht für die Tendenz der Leichtigkeit, Helligkeit und Klarheit, der Ausgeglichenheit und Bewusstheit - die Lebenseinstellung ist geprägt von innerer Ruhe, Gelassenheit, Frieden, Klarheit. Mit mehr sattvischer Energie kommt man leichter in vikshiptam und ekagram.
Ausgewogenheit
Diese drei Tendenzen sind nicht als positive oder negative Energien zu verstehen. Alle drei sind in uns wirksam - individuell in jeweils unterschiedlicher Stärke bzw. Zusammensetzung. Probleme entstehen im Allgemeinen aus der Unausgewogenheit dieser drei Energiequalitäten.
So kann auch ein Zuviel an Sattva entstehen. Man mag dann evtl. hochinspiriert, voller kreativer Ideen sein, eine herausragende Intelligenz besitzen etc., und man kommt dabei vielleicht doch mit dem Leben nicht zurecht, hat 'keinen Boden unter den Füßen', oder man verliert sich in Fantasiewelten etc.
Gewöhnlich ist in uns der sattvische Anteil unterrepräsentiert. Daher geht es im Yoga in erster Linie darum, diesen Aspekt zu stärken, denn er ermöglicht uns ein besseres Verstehen unserer eigenen Bedingungen und motiviert dazu, sich im Leben weiter zu entwickeln.
Yoga-Praxis und die drei Energiequalitäten
Will man Sattva stärken und so das Energieniveau erhöhen, unterstützen uns beispielsweise eine sehr achtsame, an die individuellen Bedingungen angepasste Asana-Praxis, subtile Atemübungen (sukshma-pranayama), bewusste Entspannung und Meditation. Alles Üben, das mit Achtsamkeit und Feingefühl, mit innerer Beteiligung durchgeführt wird, stärkt den sattvischen Aspekt der Energie bzw. des Geistes.
Beobachtet man beispielsweise den momentanen Zustand seines Geistes - und stellt fest:
'Mein Geist ist gerade zerstreut, unruhig, überaktiv (kshiptam) - oder träge, müde, schwer (mudham)' -
dann ist es bereits nicht mehr so dominant und belastend. Durch diese Bewusstheit gewinnt man einen gewissen Abstand zum momentan dominanten Zustand und ist nicht mehr vollständig darin verfangen. Auf dieser Grundlage lässt sich dann der Zustand auch verändern. Indem man beispielsweise Methoden einsetzt, die mehr Energie anregen bzw. durch die man in einen Zustand tieferer Sammlung (vikshiptam) finden kann.
Regelmäßiges Üben
Mit Stärkung der sattvischen Energien entwickelt sich auch die Fähigkeit, besser bei einer Sache zu bleiben. Man findet leichter in einen Zustand tieferer Sammlung. Und erst ein gesammelter Geist besitzt die Kapazität, die latenten Potentiale des Geistes zu erschließen, beispielsweise die Zugänge zu tiefer Erkenntnis, zu den Quellen innerer Inspiration und Kreativität - uvm.
Solange man nicht an sich arbeitet, bleibt der Grundzustand im Leben - unser Glücks- bzw. Unglückslevel - relativ konstant. Intensive Erfahrungen, die in unserem Leben auftreten, mögen ihn für einige Zeit verändern, doch der Grundzustand pendelt sich früher oder später wieder ein.
Dieser Grundzustand lässt sich nur durch regelmäßige Praxis dauerhaft verändern:
sa tu dirgha-kala-nairantarya-satkarasevito dridha-bhumih ||
Diese (Praxis) entwickelt nur dann eine stabile neue Ebene, wenn sie über lange Zeit,
ohne Unterbrechung, mit positiver Einstellung (voll Aufmerksamkeit und Hingabe),
vollständig und unablässig beibehalten wird.
(Yoga-sutra I.14)
(Samvid)