Freiheit von Schmerzen
(Aus den Lehren der Himalaya-Tradition der Yoga-Meditation)
Alle Lebewesen kennen den Antrieb nach Glück und dauerhaftem Wohlbefinden - und nach Freisein von Schmerzen, der Freiheit von Leiden.
Vergnügen wie Schmerz werden im Yoga als Zustände des Geistes erkannt. Es gibt zahllose Formen des Leidens - doch alles Leiden beginnt im Geist. Schmerz können wir daher nur überwinden, wenn wir mit dem Geist arbeiten.
Die Yoga-Psychologie analysiert die Ursachen von Schmerz und Leiden - und bietet zugleich die Methoden für die Heilung dieser Ursachen an.
Die Ursache von Leiden
Die Wurzel aller Schmerzen findet sich im Zustand der Unwissenheit, falscher Wahrnehmung und Erkenntnis (avidya).
Unwissenheit worüber?
Gute Bildung und Information sind nicht mit Weisheit (vidya) gleichzusetzen. Weisheit bedeutet unverstellte Klarheit, korrekte Erkenntnis, frei von den Beschränkungen begrenzter Informationen und den Färbungen von Voreinstellungen.
Yoga definiert Unwissenheit, Ignoranz als das Verwechseln des Vergänglichen mit dem Ewigen - des Unreinen mit dem Reinen - des Schmerzhaften mit dem Vergnüglichen - des Nichtselbst mit dem Selbst.
Konzentration
Und Vergnügen wird im Yoga als Konzentration definiert. Vergnügen erfordert Konzentration, will man Vergnügen steigern, muss man sich darauf konzentrieren.
Am Beispiel Essen:
beim Essen beruht das Vergnügen hauptsächlich auf dem Geschmack, doch die meisten Menschen schlingen ihr Essen einfach hinunter. In diesem Fall kann man den Geschmack nicht genießen - und es ist keine erfreuliche Erfahrung.
Oder sexuelles Vergnügen: hier ist man auf eine andere Person konzentriert. Schenkst du der Person in deinen Armen keine Aufmerksamkeit, gibt es auch kein echtes Vergnügen. Orgasmus, der sexuelle Höhepunkt, ist vollständige Konzentration, die jedoch nur einige Sekunden anhält.
Vergnügen ist ein geistiger Prozess. Unser Geist ist fortlaufend damit beschäftigt, über die Sinne Möglichkeiten und Objekte zu finden, durch die er Vergnügen erfahren kann.
Wären wir fähig, unsere Konzentration für eine längere Zeitspanne störungsfrei aufrecht zu erhalten, würde sie zu Meditation führen - und wir würden bislang ungekanntes Vergnügen erfahren. Doch ohne entsprechendes Training des Geistes sind wir dazu nicht fähig.
Zwei Formen von Vergnügen
In dieser Welt existieren zwei Formen des Vergnügens:
- Vergnügen, das auf Erregung beruht (sukha) - und in Erschöpfung, in Verausgabung der aufgebauten Energie endet -
- Vergnügen, das auf tiefer Ruhe und Stille beruht (ananda), in der sich Energie aufbaut, die sich nicht wieder abschwächt und auch nicht endet.
Wir alle suchen eigentlich jenes Vergnügen, das keine Verausgabung kennt, das nicht in Erschöpfung endet. Wer danach sucht, sollte sich der Meditation zuwenden.
Schmerz als Konsequenz vergänglichen Vergnügens
Alle vergnüglichen Erfahrungen, die uns die Welt bieten kann, sind immer auch mit Schmerz verbunden. Innerhalb der dualistischen Wirklichkeit sind Vergnügen und Schmerz untrennbar verbunden. Diese Dualität endet erst in der Erfahrung von Samādhi, in tiefster Meditation - einem Zustand völliger Harmonie.
Suchen wir nach vergänglichen Vergnügungen, ist es unvermeidbar mit Schmerz verbunden:
- der erste Schmerz besteht in einer grundsätzlichen Unzufriedenheit, einem inneren Brennen, einem Mangelgefühl, dem Gefühl von Unvollständigsein - dem ständigen Verlangen nach etwas, das wir in Wahrheit nicht einmal richtig benennen können -
- und dann der Schmerz des Bemühens - die Anstrengungen, die wir aufbringen müssen, den Aufwand, den wir betreiben müssen, um ein bestimmtes Vergnügen zu erlangen -
- dann der Schmerz im Vergnügen selbst -
einmal in Form der unterschwelligen Furcht vor Verlust dieses erlangten Vergnügens -
und auch in Form von nichterfüllten Erwartungen, der Enttäuschung und Ernüchterung -
'Ja, das gefällt mir, doch es könnte besser, intensiver, vollständiger sein!' - und sobald man ein Verlangen erfüllt hat, verliert es seinen Zauber. Es entsteht erneut Unzufriedenheit - und man sehnt sich nach dem nächsten Vergnügen.
Aufgrund mangelnder Konzentration sind wir nicht einmal fähig, die sinnlichen, vergänglichen Vergnügungen richtig zu genießen.
Auf diese Weise gießen wir fortlaufend Öl in das brennende Feuer des Verlangens. Diese Art Verlangen wird niemals gestillt!
Bleibende Zufriedenheit
Diese Situation können wir nur verändern, indem wir das Brennen des Verlangens, unbeständiger Wünsche, nur momentaner Befriedigung und der Enttäuschungen durch etwas Bleibendes, Ewiges ersetzen - indem wir vergängliches Vergnügen (sukha) durch Ananda ersetzen - die immerwährende Freude, Seligkeit, Vollständigkeit. Sie ist immer gegeben - hier und jetzt.
Doch wir erfahren es nicht, da wir ständig mit anderen Dingen beschäftigt sind: mit konditioniertem Verlangen beruhend auf vergangenen Erfahrungen und projizierten Hoffnungen in die Zukunft.
Alles Vergnügen entstammt einer Quelle - dem Bewusstsein, unserem spirituellen Selbst. Unser sinnlich und daher auswärts orientierter Geist kann jedoch nur winzige Schimmer davon fassen. Diese Schimmer sind die vergänglichen Vergnügungen, denen wir ständig nachjagen - mit der Konsequenz der damit verbundenen schmerzlichen Erfahrungen.
In der Meditation suchen wir diese Quelle, dieses Ananda, diese unvergängliche Freude. Um es zu erfahren, müssen wir erst aus unserer Unwissenheit auftauchen. Dazu trainieren wir uns in der Meditation, unsere Anhaftung an Verlangen aufzugeben - und damit den Schmerz, der auf der Abwesenheit von Konzentration beruht, den Schmerz, der auf Unzufriedenheit und Enttäuschung beruht.
Disziplin
Um aus unserer grundlegenden Ignoranz aufzutauchen, benötigen wir Disziplin - d.h. Beständigkeit in dieser Orientierung, Ananda zu realisieren.
Im Meditationstraining entwickeln wir die verschiedenen Schritte und Elemente der Praxis, wie Entspannung, Konzentration, Meditation als Prozess - um schließlich in die höchste Meditation (samadhi) einzutauchen.
Disziplin bedeutet nichts anderes, als seinen wahren inneren Neigungen zu folgen, seiner grundlegenden Sehnsucht nach Freiheit und Vollständigkeit - und diese zu stärken:
- ich habe ein Ziel - das Vergnügen, das ananda höchster Vollständigkeit des Seins
- ich überdenke, erforsche und kontempliere diese Zielsetzung und überprüfe sie
- ich erforsche und entwickle die Mittel und Wege, um es zu erreichen
- damit erfülle ich meinen Geist - und ersetze damit die vielfältigen wechselhaften Wünsche
- schließlich finde ich in mir die Intention, das zu unternehmen, was mich zu diesem Ziel führt.
Wenn diese Neigungen stärker werden, fallen all die Dinge, die dem entgegenstehen, die mich am Erreichen dieses Ziels hindern, natürlich ab.
Es ist keine Frage, seine gewöhnlichen Wünsche zu verleugnen, zu verdrängen, zu unterdrücken. Man entscheidet sich einfach für das feinere, sublimere, tiefere und intensivere Vergnügen, das unvergängliche Vergnügen - und folgt dem.
Wenn man es versteht, seine auf dem Weg höher führenden Neigungen und Intentionen auf solche Weise zu stärken, erreicht man alle höheren Ziele.
Man muss dazu einfach an seiner Persönlichkeit arbeiten:
die Tendenzen, die mich im Kreislauf von Verlangen, Vergnügen, Enttäuschung und Schmerz gefangen halten, ersetzt man durch höhere Orientierungen - der Sehnsucht nach dem vollständigen Sein, dem Ananda des Selbst.
Dazu trifft man seine Wahl und stärkt diese Intentionen. Man fügt seiner Persönlichkeit jene Dinge hinzu, die das Ziel der Klarheit und des Vergnügens tiefer Stille fördern. Man stärkt seine Fähigkeit der Konzentration.
Genau jetzt, in diesem Moment, kannst du damit beginnen.