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Die wichtigsten Texte der Tradition

Quelle: Stoma (Stephen Parker) - Sacred Texts of the Tradition (2011, Rishikesh)

Im Studium der Texte der Yoga-Tradition geht es darum, in das Wesen dessen Eintritt zu finden, womit man sich befasst.

Wenn die Auguren (Priester) der alten römischen Religion die Sterne lesen wollten, haben sie um sich einen Kreis beschrieben, ein templum (Ursprung des Begriffs 'Tempel'). Der Priester stellte sich in die Mitte, fixierte seinen Blick auf einen Stern, mit völlig freiem und offenem Geist und Herz - solange, bis in ihm Eingebungen auftauchten. Von daher stammt der Begriff 'Kon-templation'. Gemeint ist jener freie, offene Blick in das größere Sein, um Inspiration zu finden.

Diese meditative Einstellung, Kontemplation, ist ein Öffnen des Herzens für das innere Wesen dessen, das man studiert. Es führt uns auch in die Stille. Die Essenz der Erfahrung des Göttlichen entsteht in reiner Stille, in völliger Leere, die zugleich vollständige Fülle ist. Dies ist die Natur von Brahman.

Worte können nur bis zu einem bestimmten Punkt führen. Man muss also etwas finden, das über die Worte hinausführt, das zu etwas Tieferem führt, etwas Stillerem. Das Wesen der Dinge ist nicht durch Worte zu fassen. Worte stehen im Weg. Wie bekommen wir sie also aus dem Weg, um die Erfahrung zu ermöglichen?

Die benediktinische Tradition des christlichen Klosterlebens kennt eine besondere Art des heiligen Lesens, lectio divina - göttliches Lesen. Es ist eine Art des kontemplativen Lesens, durch das die Worte sich in etwas Größeres öffnen.

Üblicherweise lesen wir Texte in unserer üblichen geistig lärmigen Art, doch hier geht es um etwas anderes. Texte sollte man in einer solch kontemplativen Art lesen und studieren.

Verschiedene Text-Kategorien

In der Yoga-Tradition gibt es mehrere Arten von Texten, verschiedene Ebenen der spirituellen Autorität:

  • Shruti: das was in der Tiefe der Meditation 'gehört' wird. Dies sind die offenbarten Texte mit höchster spiritueller Autorität - wie die Veden, Brahmanas, Aranyakas, Upanishads. Sie wurden nicht von den Autoren verfasst, sondern durch einen Rishi (Seher) 'empfangen'.
  • Smriti: das, was 'erinnert' wird - die Texte der Epen (wie Ramayaṇa, Mahabharata), die Puranas, Sutras u.a. - sie besitzen etwas weniger spirituelle Autorität.
  • Es gibt noch einen weitere Kategorie: Agama - 'das, was gekommen ist'. Es ist eine Bezeichnung für die Texte der Tantra-Tradition.

Wichtige Texte der Himalaya-Tradition

1. Ebene - Yoga:

Hier geht es darum, die Fähigkeit zur Konzentration zu erwerben und Samadhi zu erlangen. Wir versuchen, uns durch diese Schichten der Ablenkungen und Störungen zu arbeiten. Samadhi ist nicht das Ziel, wie allgemein angenommen wird - Samadhi ist die Startlinie. Hier verwenden wir:

  • die Yoga-sutras von Patanjali samt Vyasa-Kommentar
  • die Yoga-upanishads -
  • die Sammlung von Hatha-Texten, wie der Hatha-pradipika und Yoga-tarangini.

2. Ebene - Vedanta:

Hat man gelernt, sich zu konzentrieren und ist fähig, in Samadhi einzutreten, benutzt man diese tiefere Meditation dazu, in die Erfahrung der Nicht-Dualität zu finden. Hier folgen wir der Advaita-Schule des Vedanta, begründet von Gaudapada (Guru des Guru von Shankaracarya, der bekanntesten Autorität des Advaita-vedanta).

Advaita bedeutet 'nicht-zwei'. Eine andere Übersetzung für Samadhi ist Harmonisierung, gemeint ist die Harmonisierung aller Paradoxien, aller Gegensätze, die Überwindung der Zweiheit.

Wichtige Texte sind hier:
Brahma-sutras, Upanishads, Bhagavad-gita, die Texte und Kommentare von Shankaracarya u.a.

Zwei weitere bedeutende Texte sind Vedantasara und Yoga-vasishtha.

3. Ebene - Tantra:

Hiermit beginnt man, wenn man Zugang gefunden hat zur Erfahrung der Nicht-Dualität.

In unserer Tradition ist es die Samaya-Praxislinie. Es ist eine nichtduale Schule des Tantra, sie bezieht die Ideen des Vedanta mit ein und begreift sie in einem noch ganzheitlicheren Zusammenhang.

Die wörtliche Bedeutung von Samaya ist: den Regeln entsprechend. Das entspricht dem Teil des Tantra, der in Übereinstimmung mit der vedischen Tradition ist. Es gibt tantrische Strömungen, die in Übereinstimmung mit der vedischen Tradition sind und solche, die es nicht sind. Manche meinen, Samaya ist eine Art vedischer Tantra.

Swami Rama deutete Samaya anders: als 'mit dir' - zu verstehen als 'Ich bin immer mit dir'.

Im Yoga beginnen wir mit den gewöhnlichen Erfahrungen des Lebens - und arbeiten uns schrittweise zum Inneren vor. Im diesem Prozess beginnt man, gewisse Dinge als 'nicht spirituell' zu definieren. Das trifft besonders auf Unwissenheit (avidya) zu. Oder in der Sprache des Advaita-vedanta: Maya, die als Illusion aufgefasst wird - eine Art Trugbild, eine Täuschung, die man durch Konzentration zu durchdringen sucht.

Von unserer gewöhnlichen Erfahrung her betrachtet, ist das zutreffend. Betrachtet man es aber wie die Tantriker, die sagen: 'Was existiert hier im Universum, das nicht aus dem Göttlichen entstanden ist?' - dann ist auch Maya von göttlicher Natur. Wie kann man es daher als etwas Negatives betrachten. Es ist die göttliche Macht, sich zu manifestieren, sich selbst zu begrenzen und die Erscheinungswelt hervorzubringen, in der man Erfahrungen machen kann. Es ist ein göttliches Spiel - ein Spiel mit der Fähigkeit, das Universum hervorzubringen. Im Tantra gibt es daher nichts, das als 'nicht spirituell' betrachtet wird. Alles trägt in sich ein spirituelles Potential, jede Erfahrung kann zu einer spirituellen Erfahrung werden.

Das, was uns gewöhnlich bindet und begrenzt, wird so zur Quelle dessen, was uns befreit. Nimmt man beispielsweise die Auffassung von Tapas (gewöhnlich übersetzt als 'Entsagung'), würde das hier bedeuten: Genießen durch Konzentration. Doch man muss lernen, wie das, was man gewöhnlich als schmerzlich erfährt, in das verwandelt werden kann, das uns befreit. Im Tantra-System arbeitet man also vom Inneren nach außen, vom spirituellen Sein in die manifeste Wirklichkeit.

Im Prozess dieser Transformation verändert sich alles - von innen nach außen. Die innere Schönheit beginnt, von innen her zu strahlen. Auf diesem Weg des Tantra geht es um das Aufdecken der inneren Schönheit in Allem, besonders in sich selbst. Daher wird diese spezielle Auffassung als Shri-vidya bezeichnet - die Weisheit der Schönheit. Die zentrale Symbolfigur in Shri-vidya ist Tripura-sundari, die 'Schönheit der drei Welten'.

Shri-vidya beinhaltet einen sehr detaillierten Praxisweg (sadhana), er ist ein sehr bedeutender Aspekt des tantrischen Teils unserer Tradition.

Dieser Teil wird in erster Linie repräsentiert durch den Text Saundarya-lahari - ein wunderbare Hymne an die göttliche Mutter. Alle Verse sind Kompositionen von Mantras. Will man die Tiefe dieser Verse verstehen, erfordert es fundierte Erfahrung.

Darüber hinaus nutzen wir Candi, auch bekannt als Durga-saptashati (700 Verse über Durga) bzw. Devi-mahatmyam (Die wahre Größe der Devi). Es ist ebenfalls ein sehr wichtiger Mantra-Text in unserer Tradition - ein Teil unseres Mantra-shastra. Alle 700 Verse sind Mantras, die in der Meditation zur Anwendung gebracht werden können, auch für spezifische Zwecke.

Weitere Texte sind die Shakta-upanishads, Tripura-rahasya und andere tantrische Texte.

Ein weiterer Teil der tantrischen Literatur, der für unsere Tradition von Bedeutung ist, sind die Texte des Kashmir-Shaiva-Systems. Hier findet man einen großen Reichtum der Mantra-Wissenschaft in theoretischer Ausarbeitung. Man könnte sie auch als 'technische Handbücher' der göttlichen schöpferischen Sprache bezeichnen. Zu diesen Texten gehören u.a. die Shiva-satras, Spanda-karika (Spanda: der göttliche schöpferische Impuls - steht u.a. in Beziehung zum deutschen 'spontan') und Vijnana-bhairava-tantra.

Nahrung für das Herz

Im Studium all dieser Texte geht es darum, seinen Geist über die Grenzen seiner gewöhnlichen Funktionsweise hinauszuführen, oder, wie Chögyam Trungpa in seinem Buch 'Spiritueller Materialismus' so schön sagt, 'aus der Ego-Bürokratie auszusteigen'.

Dies bedeutet, auszusteigen aus dem festgefügten Verständnis der Dinge in unserem Leben. Denn um den Status zu erreichen, an dem sich all das in Samādhi harmonisiert, muss man erst alle Kategorien, alle Worte, alles Wissen, alles festgefügte Verstehen verlieren. Dazu muss man fähig werden, den Übergang in das 'Geheiligte' zuzulassen, in das 'templum', in die Stille. Nur dann kann man das Buch des Lebens lesen, nur dann kann man in die Erfahrung finden.

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