Karma und Reinkarnation
Auszüge aus der Vortragsserie 'Systeme der Persönlichkeit'
von Swami Veda Bharati
Teil 6
Die Einzigartigkeit des Menschen
In der jüdisch-christlichen Theologie sind menschliche Wesen etwas Einzigartiges und sehr Besonderes. Nichts gleicht dem Menschen, und alles andere existiert zum Nutzen des Menschen, zu seinem Gebrauch. In den indischen Systemen ist der Mensch ebenfalls einzigartig, doch in einem etwas anderen Verständnis. Im hindu-buddhistischen System ist der Mensch insofern einzigartig, dass man ein menschliches Wesen sein muss, um (spirituelle) Befreiung erlangen zu können. Doch das menschliche Geschöpf ist nicht in der Weise einzigartig, dass ihm alles gehört, ihm alles unterworfen ist.
In den indischen Systemen ist der nur in einem Sinn Mensch einzigartig: er besitzt freien Willen, er kann in einer Weise genutzt werden, wie es niederen Tierarten nicht möglich ist. Doch die niederen Tierarten und alles andere sind nicht Besitz des Menschen, sie sind nicht dazu bestimmt, dass der Mensch mit ihnen tun kann, was er tun möchte. Sie sind gleicherart Lebewesen. Es ist äußerst wichtig, gegenüber allen lebenden Wesen sensitiv, einfühlsam zu bleiben. Der Mensch mag in mancher Hinsicht herausragend sein. Doch solange ein Mensch sich nicht in Richtung Selbstverwirklichung entwickelt, ist er nicht besser als ein Tier.
Ein Wolf geht auf die Jagd nach Beute.
Ein Mensch geht auf die Jagd nach Brot, Geld oder Job.
Der Jagdinstinkt ist derselbe.
Das 'Gesetzbuch des Manu' (ein sehr alter Text der indischen Kultur) besagt: das Bedürfnis nach Essen, Schlaf, Sex und die Angst (sie schließt Aggression mit ein) - diese vier Antriebe hat das menschliche Wesen mit allen Tieren gemeinsam. Bezogen auf diese vier Antriebe ist der Mensch also nichts Besonderes. Ein Wolf geht auf die Jagd nach Beute; ein Mensch geht auf die Jagd nach Brot, Geld oder Job. Der Jagdinstinkt ist derselbe.
Die indischen Systeme beruhen auf der Ansicht, dass Leben heilig ist. So ist die Lebenskraft in einer Kuh, in einem Menschen oder in einem Schaf dieselbe Lebenskraft. Es sind allein die äußeren Erscheinungsformen, die sich unterscheiden. Das physische, materielle Instrument ist von verschiedener Art. Die Form und die Größe des Gehirns mag verschieden sein, doch das Gehirn ist nicht die Lebenskraft. Ich kann einen kleinen oder einen großen Hammer benutzen, doch ich bleibe ich. Mit einem kleinen Hammer kann ich nicht dasselbe erreichen wie mit einem großen Hammer. Der Körper ist ein Instrument.
Ein Mensch, der 74½ seiner 75-jährigen Lebensspanne damit verbringt, nur jenen Antrieben nachzugehen, die er mit Tieren gemeinsam hat - Essen, Schlafen, Überleben, Sex - ein solcher Mensch hat keinen Grund, sich selbst in irgendeiner Weise als einzigartig oder höherstehend anzusehen. Er hat nur schärfere geistige Sinne, das ist alles.
Im indischen System kennen wir nicht diese Ablehnung der Idee, dass ein spirituelles Wesen, eine Seele von einer niederen zu einer höheren oder von einer höheren zu einer niederen Ebene der Bewusstheit und Funktionalität wandern kann. Es versetzt unserem anthropozentrischen Stolz einen Schlag.
Dieser Körper wird sterben.
Er wird verbrannt oder beerdigt, doch ich bestehe weiter.
Wir verstehen jetzt, dass die menschliche Persönlichkeit eine Hülle der spirituellen Lebensenergie ist. Diese Energie verändert sich nicht, allein die äußeren Hüllen ändern sich. Ich reinkarniere in einen neuen Körper. Es gibt keine Zeit, in der ich nicht war oder in der ich nicht sein werde. Doch ich wurde nie geboren, ich werde niemals sterben. Ich gehe meinen Weg. Dieser Körper wird sterben, er wird verbrannt oder beerdigt. Er wird entsorgt, doch ich bestehe weiter. Und die mentale Persönlichkeit besteht weiter im Subtilkörper.
Wir verstehen inzwischen, was der Subtilkörper ist. Er ist eine Verbindung verschiedener Kräfte, sie umfassen mein Bewusstsein, meine Pranas, meinen Geist, meine Funktion der Intelligenz und Unterscheidung, all das, was subtiler ist als der physische Körper, jedoch dichter als das reine spirituelle Wesen.
In diesem Subtilkörper finden wir das sogenannte Lagerhaus der Karmas (Karmashaya). Dies ist jener Aspekt, in dem all unsere Handlungen, alle Erfahrungen als Eindrücke, als Hinterlassenschaften der Erfahrung eingelagert sind.
Wir verstehen inzwischen, dass wir jeden Moment eine neue Persönlichkeit formen. In genau diesem Moment, während du hier sitzt, fügst du dieser Persönlichkeit bestimmte Faktoren, gewisse Elemente hinzu. Alles Handeln (Karma) wird im Karmashaya angesammelt.
Das, was du bist, das ziehst du an Erfahrungen an
Wie wirkt sich dieses Karma aus? Ich wiederhole, was ich bereits zuvor gesagt habe:
als die Art Person, die du bist, bildest du eine spezifische Art Magnet. Du wirst entsprechende Arten von Umständen anziehen. Willst du deine Lebensbedingungen verändern, willst du die Situationen in deinem Leben verändern, so verändere deine Persönlichkeit. Äußere Bedingungen zu verändern, wird nichts nützen. Es erfordert die Umgestaltung deiner Persönlichkeit. Du wirst nicht geliebt, werde also liebenswert. Es ist so einfach. Wie wird man liebenswert? Indem du dein Karma veränderst. Indem du die Gesamtsumme deiner Persönlichkeit veränderst - deine Gedanken, Worte und Handlungen, dessen, was du aufnimmst und dessen, was du nach außen vermittelst. Das, was du bist, das wirst du anziehen.
Hier unterscheidet sich die Karma-Philosophie vom System der Belohnung und Bestrafung. Die Yoga-Philosophie glaubt nicht an Belohnung und Bestrafung. Wir benutzen den Begriff des Reifens (vipaka) der Samen und Früchte. Die Samen, die du im Boden deiner Persönlichkeit ausgesät hast, wachsen und bringen bestimmte Früchte hervor.
Wie ziehen wir bestimmte Bedingungen an?
Eine der Funktionen unseres Geistes ist Buddhi - die Funktion der Unterscheidung. Sie hat zwei Seiten: eine intellektuelle Seite, die nach außen gerichtet ist, und eine intuitive Seite, die nach innen gerichtet ist. Wenn ich nun diesen Spiegel meines Geistes schwarz überdecke (tamas), kann er das Licht nicht reflektieren. Er kann mir also keine klaren Anweisungen vermitteln. Ist der Spiegel des Geistes durch Rajas rot gefärbt, werden die Hinweise von rajasischer Art sein. Nur wenn Sattva (die 'weiße Natur') dominiert, werden sattvische Orientierungen möglich.
Das bedeutet: entsprechend seinem Karma tendiert man in eine bestimmte Richtung. Hat man eine Entscheidung zu treffen, wird dein gefärbtes Buddhi den Färbungen entsprechende Hinweise geben. Du findest zu den entsprechenden Entscheidungen.
Eine sattvische, eine rajasische und eine tamasische Person, die denselben Bedingungen unterworfen sind, werden zu verschiedenen Entscheidungen finden und verschiedene Richtungen einschlagen.
Welche Art Persönlichkeit bist du?
Du bist, was immer du zu deiner Persönlichkeit durch deine Art Handlungen hinzugefügt hast.
Buddhi ist also der Schlüssel zu deinen Lebensumständen. Halte Buddhi klar und hell. Füge der Gesamtsumme deiner Persönlichkeit jene Dinge hinzu, die dich zu einer sattvischen Persönlichkeit werden lassen, einer klaren, reinen Persönlichkeit. Dann können die richtigen Dinge darin reflektieren und dir den richtigen Weg aufzeigen.
Wir sagen zwar, 'Ich treffe eine freie Wahl', doch die Wahl ist nicht so frei wie du annimmst. Sie ist ein Resultat der Gesamttendenz deiner Persönlichkeit. Die Wahl deiner Beziehungen wird von der Art deiner Persönlichkeit bestimmt. Du bist das, was immer du zu deiner Persönlichkeit durch deine Art Handlungen hinzugefügt hast. Das ist der ganze Karma-Mechanismus. Karma ist also nicht Schicksal. Viele Leute verwenden den Begriff Karma so, als handele es sich um Vorbestimmung - 'Was kann ich schon tun, es ist mein Schicksal.'
Vorbestimmung bedeutet, dass du nichts gegen dein Schicksal tun kannst. Doch laut der Karma-Lehre hingegen kannst du deine Persönlichkeit verändern. Was du bisher getan hast, bleibt bestehen, doch du kannst, von diesem Moment an, die Gesamtsumme verändern.
Drei Arten des Karma
Prarabdha-Handlungen sind jene, die bereits in einem früheren Leben angestoßen wurden. Betrachten wir es so: dieses gegenwärtige Leben ist ein Leben nach dem Tod. Ich werde gefragt, 'Glaubst du an Leben nach dem Tod?' Natürlich, ich befinde mich in einem Leben nach dem Tod. Und ich bin ebenfalls in einem Leben vor meiner nächsten Geburt.
Newtons drittes Bewegungsgesetz besagt: für jede Bewegung in eine Richtung gibt es eine gleichwertige Bewegung in die Gegenrichtung. Spirituell bedeutet das, dass für jede Handlung in einer Richtung eine entgegengesetzte Reaktion entsteht. Dies ist eines der kosmischen Gesetze.
Was bestimmt mein nächstes Leben?
Nehmen wir an, ich verletze jemanden so, dass er dadurch erblindet. Doch hier bin ich, gesund und wohlauf. Doch diese Handlung kommt zurück wie ein Bumerang. Wie erzeugt sie diese Reaktion? Sollte ich nicht unmittelbar selbst erblinden? Die Karma-Lehre verneint das, denn es existiert eine Dynamik anderer Handlungen, aufgrund derer mein Augenlicht weiter gut funktioniert. Dieses Karma kann nicht einfach aufgehoben werden, diese Eigendynamik muss sich erst erschöpfen. Also werde ich weiterhin gut sehen. Doch ich habe ebenfalls einen neuen karmischen Zyklus in Bewegung gesetzt. Ich habe meiner Persönlichkeit einen neuen verdunkelnden Faktor hinzugefügt, ich habe mein spirituelles Seh-Bewusstsein blockiert.
Wenn ein Mensch stirbt, zieht er aus seinem körperlichen Haus aus. Angenommen, du hast fünfundzwanzig Jahre lang in einem Haus gelebt, dann ziehst du aus. Du beginnst das Haus auszuräumen und findest z.B. eine zerbrochene alte Puppe. Du findest einen Schal, von dem du annahmst, dass du ihn weggegeben hast. Du siehst Stühle mit drei Beinen und anderes, und du wunderst dich, 'Oh je, ich wusste nicht, dass all diese Dinge hier in meinem Keller und Dachboden herumlagen.'
Im Keller und Dachboden deines Unterbewussten, im Lagerhaus deiner Karmas, liegen all diese Dinge eines ganzen Lebens herum. Man erlebt es manchmal bei sterbenden Personen, dass sie eigenartige Dinge sagen. Manche glauben dann, 'Nun, seine Sinne sind verwirrt, er spricht Unsinn.' Doch für ihn macht es sehr wohl Sinn. In der Stunde des Todes taucht dein gesamtes Leben vor dir auf, wie auf einer Kinoleinwand kommt die Gesamtsumme deines Lebens zum Vorschein. Alles, was verborgen war, wird jetzt sichtbar. Die Art von Leben, die du gelebt hast, die Art von Tod, die dir bevorsteht. Und die Art des Todes steht in Zusammenhang mit der Art deiner nächsten Wiedergeburt. Die Hülle deines physischen Körpers wird zurückgelassen, doch der Subtilkörper geht mit dir, zusammen mit all den angesammelten Karmas, die darin enthalten sind.
Diese Gesamtsumme deines Lebens bestimmt jetzt drei Faktoren deines nächsten Lebens. Die Gattung, in die du geboren wirst (jati). Die Lebensspanne, die du in dieser Gattung haben wirst, gezählt in der Anzahl von Atemzügen (ayus). Die Art von Schmerz und Vergnügen, die dir während dieser Lebensspanne in dieser Spezies begegnen werden (bhoga). Nehmen wir beispielsweise an, die Gesamtsumme meines Karmas in meinem letzten Leben war zur Hälfte gut und zur Hälfte bösartig, dann habe ich eine gute Chance, als menschliches Wesen geboren zu werden. Nicht als ein sehr entwickeltes menschliches Wesen, nicht sehr weise, aber geboren als menschliches Wesen. Wie lange ich leben werde und welche Art von Schmerz, Vergnügen und Bedingungen ich erfahre, wird bestimmt von der Dynamik meiner vergangenen Karmas. Dieses Prarabdha-Karma wurde bereits in Gang gesetzt, bevor du in dieses Leben geboren wirst. Es ist die Dynamik dessen, was du aus deinem vergangenen Leben in dieses Leben mitbringst.
Die Art von Familie, in die du geboren wirst, die Art Eltern du haben wirst, welche Art Karma dein Bruder oder deine Schwester hat, die Art Karma, die du selbst mitbringst - die Kombination all dieser Faktoren macht eine Familie aus. Eine Familie ist das kollektive, aufeinander abgestimmte Karma einer Anzahl von Seelen. Dein Bruder wird durch dich die Erfüllung seines Karma erfahren, und durch ihn wirst du die Erfüllung deines Karma erfahren. All dieses Umstände und Bedingungen kommen zusammen.
Einige Menschen werden blind geboren - weshalb? Wissenschaftler würden sagen, aufgrund erblicher Bedingungen, aufgrund genetischer Faktoren. Doch das beantwortet nur das Wie, nicht das Warum.
Jeder hat die Freiheit, sein Karma und dadurch sich zu verändern
'Habe ich keine andere Möglichkeit als die Dinge zu erdulden und mein früheres Karma dafür verantwortlich zu machen?'
Die Antwort darauf ist Sancita-Karma - das Karma, das du in diesem Leben bisher angesammelt hast. Und die dritte Kategorie, Kriyamana - jenes Karma, über das du vollständige Kontrolle besitzt, indem du eine Wahl triffst. Du bringst also Karma aus dem vergangenen Leben, du hast Karma in diesem Leben angesammelt, und jetzt in diesem Moment kannst du beginnen, anderes Karma anzusammeln. Dieses Kriyamana-Karma steht mir vollständig frei.
Wir haben also eine Wahl. Wenn du in deinem Leben bestimmte Dinge erreichen möchtest, dann reguliere deine Persönlichkeit dementsprechend. Wenn du wissen möchtest, wie dein Leben sein wird, überprüfe dein Sancita-Karma. Was habe ich bisher angesammelt? Falls dir das, was du bisher in diesem Leben angesammelt hast, nicht gefällt, kannst du auf Kriyamana-Karma zurückgreifen. Du kannst die Entscheidung treffen, von diesem Moment an bestimmte Dinge der Gesamtsumme deiner Karmas hinzuzufügen. Erarbeite dir einen Entwicklungsplan: 'Von jetzt an in fünf Jahren möchte ich diese Art von Person sein, und ich möchte in dieser und jener Art von Bedingungen leben.'
Füge diese Art von Dingen zur Gesamtsumme deiner Persönlichkeit hinzu, plane deine Handlungen, plane deine Gedanken, deine Worte, deine Tendenzen, deine Einstellungen. Plane deine Art und Weise, wie du mit bestimmten Umständen umgehen möchtest. Du kannst die Dynamik verändern.
Die Natur hat die Eigenschaft, immer wieder in ein Gleichgewicht finden zu wollen. Genau jene Handlungen, durch die der Mensch die Existenz anderer Arten gefährdet und sie auszulöschen droht, bedrohen auch seine eigene Existenz und beschwören die Gefahr der Reduzierung seiner eigenen Spezies. Irgendwo wird der Ausgleich stattfinden. Wenn du dich nicht selbst steuerst und regulierst, werden andere Kräfte beginnen, dein Leben zu kontrollieren.
Kann man sein vergangenes Karma verändern?
Du kannst die Kraft bestimmter Karmas verringern, indem du deine Erfahrungen als Gelegenheit begreifst, deine innere Einstellung zu verändern und die Bedingungen als eine Möglichkeit für eigene Entwicklung nutzt.
Du kannst dir freiwillig bestimmte Sühnemaßnahmen auferlegen, damit du dieses Karma nicht unfreiwillig durchleben musst. Es gibt auch bestimmte Mantras. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, Karma zu handhaben - bestimmte Mantras, bestimmte Sühnemaßnahmen und andere Wege.
Langsam, ähnlich wie es durch deine Meditation entsteht, entwickelst du die innere Stärke, die es dir möglich macht, die Auswirkungen negativer Karmas bewusst anzunehmen und zu ertragen.