Die Kennzeichen für spirituellen Fortschritt (6)
Auszüge aus der Vortragsserie von Swami Veda Bharati
(Adhyatma Yoga-Retreat, 2002)
Teil 6
Über Krankheit
Über die Einstellung bezüglich Krankheit haben wir bereits kurz gesprochen. Ich erlebe Krankheit als eine gesegnete Zeit, denn man ist frei von allen anderen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten. Diese Zeit kann man nutzen, um im Inneren zu bleiben und seine Japa-Praxis und anderes zur Vertiefung seiner spirituellen Erfahrung durchzuführen.
Erkrankung bietet die Möglichkeit, seinen Körper von innen her zu erforschen und den Organismus verstehen zu lernen. Man lernt laufende Veränderungen zu verstehen und wie man sie allmählich beeinflussen und modulieren kann. 'Sie modulieren' bedeutet Selbstheilung.
Selbstheilung auf zweifache Weise:
- indem man den Körper beauftragt, sich selbst zu heilen, und
- indem man für einen ruhigen und entspannten Geist sorgt, wodurch sich die Prana-Knoten lösen und die pranische Energie wieder frei und ungehindert durch den gesamten Körper strömen kann. Dies ermöglicht eine schnellere Heilung.
Das indische Wort 'Sva-stha' bezeichnet jemanden mit guter Gesundheit, und 'Svaasthya' bedeutet Gesundheit. 'Sva', in sich selbst, durch seine eigene Natur. Damit also Krankheit in Gesundheit verändert werden kann, braucht es einen mentalen Zustand von 'Sva-stha': in sich selbst verweilend, in seiner wahren Natur ruhend.
Ein weiterer Nutzen, der ganz natürlich entsteht, ist die Fähigkeit, über oberflächliche Schmerzen hinauszugehen. Man begreift das Wesen von Schmerz.
Physischer und emotionaler Schmerz
Was genau ist physischer Schmerz? Es ist lediglich die Botschaft der Peripherie des Körpers an die Schaltzentrale, dass irgendwo im Köper eine Störung vorliegt oder etwas eindringt.
Aus dem betroffenen Bereich der körperlichen Peripherie wird mittels chemischer und elektrischer Signale die Botschaft an die Schaltzentrale übermittelt. Doch dann kann das Bewusstseinsprinzip in der Zentrale sagen, 'Danke, die Botschaft ist angekommen. Du brauchst mir jetzt nicht weiter beständig die gleichen Signale senden. Hör damit auf.'
Genau das versäumen wir, da wir ausschließlich mit dem Schmerz beschäftigt sind. Wir sind in unsere Schmerzen geradezu verliebt und signalisieren damit, 'Schick die gleiche Botschaft immer wieder. Mach sie deutlicher und stärker'.
Genauso ist es mit emotionalen Schmerzen. Wir lieben es, uns allein in eine Ecke zurückzuziehen, den Kopf in ein Kissen zu vergraben und uns im emotionalen Schmerz zu suhlen. 'Ich will das weiter spüren. Es ist so behaglich!'
Daher: sobald dein Gehirn und dein Geist die Botschaft erhalten haben, belass es dabei und beende es.
Vergnügen und Schmerz
Dabei lernt man zwei Dinge. Zum einen das, was in der Bhagavad Gita als 'Samaha-sukha dukhayahu' beschrieben wird: Gleichmut gegenüber Vergnügen und Schmerz. Sowohl das sinnliche Vergnügen wie auch sinnlicher und körperlicher Schmerz wird als oberflächlich erkannt, als Dinge, die lediglich an der Peripherie, an der Oberfläche deiner Persönlichkeit geschehen.
Du hast ein Magenproblem. Doch dem Rest des Körpers geht es gut, genieße daher das!
Wir sind wie kleine Kinder, die mit einem leicht schmerzenden Finger herumlaufen und rufen 'Mama, es tut weh! Ich möchte, dass du mich bedauerst'. Doch das ist nicht die Art, wie ein Sadhaka, ein Mensch auf dem spirituellen Weg, damit umgeht.
Einerseits lernt man, voller Gleichmut mit all den peripheren Freuden und Schmerzen umzugehen. Zum anderen lernt man, tiefer nach innen zu gehen, an jenen Ort, zu dem diese peripheren Signale, die chemischen und elektrischen Botschaften, nicht durchdringen können und an dem man im reinen Bewusstsein verweilt, im nicht-physischen Bewusstsein, im nicht-physischen Geist.
Die eigene Einstellung zum Schmerz durchläuft einen Wandel, die Einstellung zu Krankheiten verändert sich. Man überwindet diese (ich nenne es so) 'suchtartige Anhaftung' am Schmerz, genauso wie die Sucht nach Vergnügen, denn beide sind ein und dasselbe. Es sind Anhaftungen an körperliche Empfindungen. Das bedeutet keineswegs, dass man unsensibel wird, sondern lediglich, dass man sie regulieren kann.
Psychologische Konditionierungen
Emotionale Schmerzen entstehen aus der Anhaftung an unsere psychologischen Konditionierungen. 'Ich bin introvertiert, es bereitet mir große Probleme mit Menschen zu sprechen'. 'Ich bin extrovertiert, daher leide ich sehr, wenn ich niemanden zum Reden habe.'
All das sind psychologische Konditionierungen, geistige Gewohnheiten, psychologische Behinderungen. Sie hindern uns daran, über unseren derzeitigen spirituellen Standort hinauszuwachsen. Ein Mensch auf dem spirituellen Weg übt sich daher darin, sich durch beständige Selbstbeobachtung schrittweise aus den eigenen psychologischen Konditionierungen zu lösen.
Freier Wille
Unsere Arbeit beruht auf dem Grundwissen, dass Atman, das reine Selbst, die Wohnstatt des freien Willens ist und jede beliebige Wahl treffen kann. Diese Freiheit des Willens durchdringt auch unseren Geisteszustand. Der Geist besitzt daher dieselbe Freiheit, diese oder jene Option zu wählen. Ob man sich für eine Zelle im Gefängnis oder in einem Kloster entscheidet: es besteht absolut kein Unterschied.
Wenn es heißt, 'Ich wurde als Kind missbraucht’, so hat man zwei Möglichkeiten: man kann sich entscheiden, rachsüchtig zu sein, 'Eines Tages werde ich jemanden das spüren lassen'. Und wen lässt man es spüren? Die eigenen Kinder. Hat man einen sattvischen Geist, besteht die andere Möglichkeit darin, zu sagen: 'Es war sehr schmerzhaft. Ich will niemals jemand anderem etwas derartiges antun.'
Diese Entscheidung liegt ausschließlich bei uns selbst. In welcher Weise ein Ereignis oder eine Serie von Ereignissen unseren Geist konditioniert, und welche Reaktionen wir daraus gestalten, hängt allein davon ab, wie man die Freiheit des Willens, die Freiheit des Geistes, die von spiritueller Kraft durchdrungen ist, zu nutzen versteht.
Schwächen und Stärken
Zugleich erfährt die Art, wie wir eigene schwierige psychische oder geistige Bedingungen betrachten oder mit schwierigen Situationen umgehen, eine Veränderung. Wir betrachten sie auf neue Weise. Da alles vom Göttlichen durchdrungen ist, ist jede Schwäche die Abschwächung einer bestimmten Stärke. Jede Art Schwäche ist die Abschwächung einer bestimmten Stärke! Jedes Übel ist die Verzerrung von etwas Gutem.
Ein Mensch auf dem spirituellen Weg wächst über die psychologische Persönlichkeit hinaus. Dies ist der wichtigste Punkt: man bleibt nicht in den eigenen psychologischen Konditionierungen gefangen. Hat man in seiner Kindheit die Mutterliebe vermisst, so kann man entweder sein Leben damit verbringen, sich selbst zu betrauern oder man kann diesen Schmerz in Kreativität verwandeln.
Auf diese Weise verändern sich die eigenen Reaktionsweisen - man verändert diese Konditionierungen. Wenn man einem ärgerlichen Menschen begegnet, erkennt man beispielsweise, dass der Ärger der Person nicht wirklich gegen einen selbst gerichtet ist, sondern dass man lediglich gerade zufällig anwesend ist. Es hat nichts mit einem selbst zu tun, außer man hat diese Person in irgendeiner Weise verletzt. Sollte das der Fall sein, sollte man dem Ärger nicht mit Ärger begegnen, sondern sanft, liebevoll und aufrichtig um Verzeihung bitten. Diese Fähigkeit der Reue sollte man in sich tragen.
Schmerz, die Quelle von Ärger
Hat man jedoch die verärgerte Person nicht verletzt, sollte man verstehen, dass sich der Ärger nicht auf diese spezifische Situation oder auf sich selbst bezieht. Der Ärger ist einfach da; er hat sich durch andere Ursachen im Laufe der Zeit aufgebaut - aus den Interpretationen seiner Erfahrungen seit seiner Kindheit. Diese spezifische Situation und diese spezifische Person bilden nur die Auslöser.
Die ärgerliche Person erleidet eine bestimmte Art Schmerz, und da sie nicht weiß, wie man diesen Schmerz überwinden kann, drückt sie diesen Schmerz als Ärger aus.
Man wächst über die eigenen psychologischen Konditionierungen hinaus, indem man spirituelle Einsicht anwendet. Auf diese Weise wächst die spirituelle Einsicht. Die gleichen Dinge, die früher Ärger, Abwehr oder Selbstschutz auslösten, rufen dann völlig neue positive Reaktionen in dir hervor.
Über Identifikationen hinauswachsen
Dies ist der einzig wahre Fortschritt! In der Lage zu sein, die eigenen psychischen Bedingungen so zu verändern, dass man über jegliche Identifikationen wie männlich oder weiblich, groß oder klein, dick oder dünn, hässlich oder gutaussehend, reich oder arm, oder als jemand, der sein ganzes Leben lang kämpfen musste, hinauswächst.
Man wächst darüber hinaus, unglücklich zu sein, weil man nie mütterliche Liebe erfahren hat oder weil man schon so oft betrogen wurde. Diese Stufe erreicht zu haben bedeutet nicht, dass es keine Erinnerung mehr an diese Ereignisse gibt, doch sie sind nicht mehr die Quelle unserer Reaktionen.
Dieser letzter Punkt der Kennzeichen für spirituellen Fortschritt ist der schwierigste: über die eigene Persönlichkeit hinauszuwachsen und sie so zu verändern, dass man weder introvertiert noch extrovertiert ist. Was immer dann nötig ist, um anderen zu helfen - man ist genau das!